Samstag, 10. Dezember 2005

Fluganleitung Teil 1 von Luciano De Crescenzo

„Fliegen?! Aber ich kann doch nicht...“
„Sicher, du musst es erst lernen: Alle können fliegen, wenn sie es wirklich wollen.“
„O ja, ich will es, ich will es wirklich.“
„Und deswegen bin ich hier“, sagte lächelnd der Herr der Vögel. „Ich bringe dir die Grundregeln bei, und dann wirst du anfangen zu fliegen, ohne es auch nur zu merken. Also schauen wir mal: Zeig mir zuerst mal alles, was du bei dir hast.“
Luca begann, seine Taschen auszuleeren, und reichte alles, was er herauszog, dem Herrn der Vögel.
„Also: Hier ist ein Taschentuch, das ist der Führerschein...“
„Wirf den Führerschein weg! Wer fliegen möchte, darf kein Auto besitzen.“
„Hier sind die Hausschlüssel...“
„Weg mit den Schlüsseln. Vögel haben ihre Nester niemals abgeschlossen.“
„Das ist eine kleine Kupferreproduktion von einem Gemälde von Botticelli.“
„Lass mich sehen“, sagte der Herr der Vögel und betrachtete aufmerksam die dargestellte Person. „Weisst du was: Das Gesicht des Mädchens ähnelt sehr dem von Simonetta. Trage es bei dir, wer weiss, vielleicht hilft es dir fliegen.“
„Hier habe ich mein Portemonnaie mit dem Geld.“
„Wieviel Geld hast du?“
Luca begann zu zählen; als er bei 30'000 Lire angekommen war, hielt der Herr der Vögel seine Hand fest.
„Das ist genug, den ganzen Rest kannst du wegwerfen.“
„Warum 30'000? Warum nicht alles wegwerfen?“
„Weil dem Geld Respekt gebührt, wenn es nicht zuviel ist. Es wird schmutzig, wenn es mehr wird. 10'000 Lire wiegen sehr wenig, 20'000 ein bisschen mehr, 30'000 sind die oberste Grenze, bei der es noch möglich ist zu fliegen. Wenn es über 30'000 Lire werden, wiegt jeder 10'000 Lireschein so viel, so wahnsinnig viel, dass es niemandem gelingen würde, auch nur einen Zentimeter weit vom Boden abzuheben.“
„Und das Scheckheft?“
„Um Gottes willen! Das ist, als trügest du eine Bleikugel an den Füssen.“
„Mehr habe ich nicht.“
„Zieh dir die Schuhe und die Strümpfe aus. Um dich richtig abstossen zu können, musst du unbedingt direkten Kontakt mit dem Erdboden haben.“
Luca gehorchte und rieb die nackten Füsse heftig auf der Erde. Es bereitete ihm ein ungeheures Vergnügen zu spüren, wie das feuchte Erdreich unter seinen Zehen zerkrümelte.