Dienstag, 13. November 2007

Filmfestival


Europa ist auf Besuch in Chiang Mai. Die Schweiz ist nicht dabei. Seit letzten Donnerstag pilgere ich jeden Abend ins Kad Suan Kaeuw Shopping Center, wo fast unbeachtet von den Thais das European Union Film Festival stattfindet. Einige Farangs und Expats finden auch den Weg dahin. Manchmal ist der Saal gut besetzt. Die Filme werden alle in Originalton mit englischen Untertiteln gezeigt. Ein Genuss für mich. So höre ich zum ersten Mal, wie man in Luxemburg spricht. Eine Mischung zwischen Deutsch und Französisch, erinnert mich an Elsässisch. Heimelt an. Der erste Film natürlich aus Portugal, dessen Barroso immer noch den EU Vorsitz hat. Wie abgesprochen erscheinen die meisten Zuschauer festlich gekleidet. Der Eintritt ist gratis und doch braucht man nicht Schlange zu stehen. Zu Beginn ertönt die Nationalhymne zu Ehren des Königs. Alle stehen auf. Zur Musik wird ein Film gezeigt. Der Monsun strömt auf grüne Reisfelder. Fotos des Königs rinnen wie grosse Regentropfen über die Leinwand. Nährende, wohltuende Monarchie wird suggeriert. Dann der Vista Selbstverherrlichungs-Spot und die "Please turn your mobile phone off"-Erinnerung. Kein Vorfilm. Das wird sich leider noch ändern. Doch vorerst höre ich endlich wieder mal die Melodie von "português" so wie Gregorius sie im "Nachtzug nach Lissabon" gehört haben muss.

Das o, das sie überraschend wie ein u aussprach, die ansteigende, seltsam gepresste Helligkeit des ê und das weiche sch am Ende fügten sich für ihn zu einer Melodie, die viel länger klang, als sie wirklich war, und die er am liebsten den ganzen Tag lang gehört hätte.

So würde vielleicht der Bericht einer Kritikerin über das Filmfestival beginnen. Ich mach was anderes. Ich lasse zu jedem Film, den ich gesehen habe, eine 4-stufige Wortpyramide wachsen. Wortgärtnerinnen wissen, wie das geht. Man schreibe ein Wort auf ein Blatt Papier. Assoziiere dazu zwei neue Worte und schreibe sie links und rechts unter das erste Wort. Dann nehme man das linke Wort und assoziiere dazu wieder zwei neue Worte und schreibe sie links und rechts darunter, dann das gleich mit dem Wort rechts und so weiter bis man genug hat. So entsteht langsam von oben nach unten eine Wortpyramide. Bei einer 4-stufigen Wortpyramide ergibt das 32 Worte. Diese Worte sind dann die Zutaten in meiner Filmessenz.

Portugal: A Costa dos Murmúrios
Bedrückende Gewalt. Täter reagieren unbewusst. Opfer leiden hilflos. Kinder sterben. Mitleid ist schuld. Widerspruch lösen ist unmöglich, aber wahr. Kopf versteht. Mitgefühl und Gleichmut helfen Unwissenheit. Richten mit Gewalt und Anmassung ist verantwortungslos. Rache schadet. Dekadenz ablehnen und verurteilen.

France: Demented
Traurige Körperhaltung. Verschlossene Tür als Ausweg. Die Öffnung verrücken durch Schreien und Ausflippen. Dukkha sehen und Akzeptieren. Bereit sein. Die Augen öffnen. Schultern tragen schwere Last. Leben ist Atmen, ist verbunden sein. Harte, brüchige Mauern fallen ein. Alt zusammenbrechen ist normal.

Spain: La Ardilla Roja
Verwirrende Erzählweise. Der rote Faden ist Erotik. Körper mit langen Haaren. Seafoodhappen und Kopfnüsse verletzen das Gehirn. Verborgenes Motiv. Nichtwissen zwischen Wahrheit und Lüge, Opfer und Täter. Spannend wie ein Krimi. Das Ende ist vergessen. Amnesie und Demenz.

Finland: Äideistä parhain
Krieg und Schicksal entreissen MEIN. Mütter lieben ehrlich, verzeihen, lassen los. Tränen verbinden. Tod löst. Vereint vom Krieg lernen ist möglich. Sohn zwischen Müttern, Grenzen, Heimat. Schenken und umarmen hilft. Das Beste ist relativ zu hier und jetzt. Moment ist ALLES in Beziehung.

The Netherlands: Antonia
Frauen stolz wie Königinnen handeln mutig und aufrecht, hüten Herzen voller Hingabe, Liebe und Weisheit, lassen leben, schenken Vertrauen, nehmen fürsorglich teil, walten willensstark, sterben furchtlos. Sind Selbst, Teil und Alles. Freude und Hof gedeihen wieder.

Luxembourg: Perl oder Pica
Esch-sur-Alzette. Luxemburgisch verstehen ist neu. Lehrer verklemmt und streng. Streiche führen zu Hieben. Einfach aushalten. Disziplin leben. Pflicht aufzuklären macht Familie verlegen. Gielemännchen verraten und verzeihen. Nur Phantasie. Auf Olympia tippen fabriziert Eindruck und Ausdruck.

Austria: Fräulein Phyllis
Alte Tochter, verwöhnt, intelligent, verzogen, gleichgültig, lügt schamlos zum Zeitvertreib. Mord. Lachen erstarrt im Hals. Kriminell. Einsperren. Taugenichts in gefährlichem Panzer. Geschmacklose Komödie. Untauglich. Dilemma.

Sweden: Queen of Sheba's Pearls
Warum Titel? England prüde, förmlich, höflich, tot. Revolte der Pubertät. Sheba, die Tigerin Neugier forscht und spielt. Geheimnisvolle Schwedin, lustig, offenherzig, verbreitet Lebensfreude im Sarg. Erweckt begrabene Leichen. Wirbelt Staub auf. Wischen exotisch.

Greece: Enas iroas...sti Romi
Clown im zu grossen Kostüm vertraut heiter fliessend der komischen Fassade des Lebens. Sprache, italienisch gestikulierend, griechisch tanzend, taub stolpernd. Mediterrane Verführung durch Klang und Bewegung. Syrtaki und Oper für Laien. Tolpatsch ist Schauspieler. Rolle wechselt Kulissen. Lachen im Theater.

UK: The Last King of Scotland
Unfall. Panik. Schuss. Auslöser für Zufall von Macht. Verführerische Wahl ohne richtiges Verständnis ist gefährlich. Verstrickung in Wahnsinn, Panik und Orgien. Blut wie aus einem Vulkan rächt weiter. Angst warnt und lähmt vor gefühlloser Grausamkeit. Warum? Verbunden. Mitgehangen. Loslassen braucht Mut und Energie.

Das Filmfestival ist gestern abend gestorben. Ich hab ihm Zeit und Energie geschenkt und hab dafür Freude, Wissen und ein paar Einsichten erhalten. Hab meine Entschlossenheit gestärkt, das zu tun, was ich mir vorgenommen habe, nicht "Koste-es-was-es-wolle", aber doch mit Energieeinsatz.

Barfuss ins Kino?