Mittwoch, 12. September 2007

Kisagotami

Seit ich im April in der Algarve gelandet bin, lässt mich das Schicksal der verschwundenen Madeleine McCann und ihrer Familie nicht mehr los. Immer wieder stosse ich irgendwo auf diesen Fall, der in den Medien aufgebauscht und in fette Schlagzeilen zerpflückt wird. Wie gehe ich damit um? Was heisst Mitgefühl in diesem Fall? Was ist wirklich geschehen? Was kann ich daraus lernen?

Bei meinen Lehrern Steve und Rosemary Weissman finde ich diese Geschichte:

Wenn man sagt, Vipassana sei eine einzelne Technik, dann beinhaltet das, dass nur diese Methode gültig ist, und somit beschränkt man das Buddhadhamma auf eine Form. Wenn man das Buddhadhamma beschränkt, dann hindert das den Weisheitsgeist oft daran, schöpferisch zu sein und alle möglichen geschickten Mittel einzusetzen, um bei der Erkenntnis der Wahrheit anzulangen.
Es gibt eine wunderschöne, bekannte Geschichte im Theravada-Buddhismus, die die geschickten Mittel des Buddha illustriert. Es ist die Geschichte einer Frau namens Kisagotami.
Kisagotami wurde in einer armen Familie in Indien geboren. Später hatte sie das Glück, in eine Händlerfamilie einzuheiraten. Zu jener Zeit erntete eine Frau viel Respekt, wenn sie einen Sohn gebar. Kisagotami brachte einen Sohn zur Welt und war sehr glücklich darüber.
Als das Kind etwa 2 Jahre alt war, wurde es beim Spielen im Garten von einer Schlange gebissen und starb. Als Kisagotami ihren Sohn fand, fiel sie von Trauer überwältigt in einen Schockzustand. Sie weigerte sich zu glauben, dass ihr Sohn tot sei. Sie rannte wie besessen durch die Stadt, auf der Suche nach einem Arzt, der ihn heilen konnte. Natürlich konnte da kein Arzt mehr helfen. Trotzdem suchte sie weiter und bat die Leute, jemand möge ihr eine Arznei geben, die ihr Kind heilen konnte. Niemand konnte sie davon überzeugen, dass ihr Kind tot war.
Schliesslich sagen ihr einige, die Mitgefühl für sie hatten, sie solle den Buddha aufsuchen. Vielleicht könne er ihr helfen. Und sie rannte zu dem Park, in dem sich der Buddha aufhielt. Sie legte ihm das Kind zu Füssen und beschwor ihn, ihr zu helfen, das Kind zu heilen.
Der Buddha sh sie mit den Augen des Mitgefühls an und sagte: "Liebe Schwester, es gibt da eine unfehlbare Arznei; ich werde dein Leid heilen. Aber zuerst musst du mir eine Prise Senfsaat bringen, aus irgendeinem Haushalt in der Stadt." Kisagotami war überglücklich, denn Senfsaat ist eine gängige Zutat in den Curries. Der Buddha fügte hinzu: "Es muss allerdings eine besondere Senfsaat sein. Sie muss aus einem Haushalt stammen, in dem noch nie jemand gestorben ist."
Kisagotami verstand die Bedeutung der Worte des Buddha nicht und rannte sofort in die Stadt, auf der Suche nach dieser besonderen Senfsaat. Alle Stadtbewohner hatten Mitgefühl und gaben ihr bereitwillig die Senfsaat, nach der sie so verzweifelt verlangte. Aber immer wenn sie fragte, ob dort schon einmal jemand gestorben war, antworteten sie alle traurig: "Ja." Es war in jener Zeit üblich, dass mehrere Generationen in Grossfamilien zusammenlebten. Einige berichteten vom Tod des Grossvaters, andere vom Tod der Mutter, der Bediensteten, der Geschwister usw.
Gegen Ende des Tages wurde sie müde und begann, die Universalität von Tod und Vergänglichkeit zu verstehen. Sie sah das tote Kind in ihren Armen an und erkannte schliesslich, dass es tot war. Sie legte es auf einem Leichenfeld nieder und kehrte zum Buddha zurück.
Der Buddha fragte sie sanft: "Meine Schwester, auf der Suche nach dem, was niemand findet, hast du die bittere Arznei gefunden, die ich dir geben musste. Der, den du liebtest, schlief gestern tot an deiner Brust. Heute weisst du, dass die ganze grosse Welt mit deinem Schmerz weint.
Wer da durch Kind und Vieh betört und geistig angehangen ist,
den reisset mit sich fort der Tod, gleichwie die Flut ein schlafend Dorf."
Als Kisagotami diese Worte hörte, erlangte sie die erste Stufe der Erleuchtung. Sie trat dem Nonnenorden bei und wurde nach kurzer Zeit vollständig erleuchtet.
Diese Geschichte illustriert auf wunderschöne Weise, dass Kisagotami tiefste Einsicht erlangte, indem sie die Universalität von Tod und Vergänglichkeit verstand, mit der Senfsaat als Auslöser. Es kann hilfreich für dich sein, diese Geschichte im Gedächtnis zu behalten, wenn du andere Lehrer besuchst, die Vipassana vielleicht auf Form und Methode beschränken oder du selber denkst, Vipassana sei auf Form und Methode beschränkt.