Samstag, 24. Mai 2008

Kennedys Hirn


Das ist der Titel, den Henning Mankell dem Buch gab, das ich gerade fertig gelesen habe.
Oft finde ich in Büchern Teile von mir, Sätze, in denen ich mich wiederfinde. Solche Sätze zu finden, ist ein grosser Trost. Es zeigt mir, dass es zumindest einen Menschen gibt, dem ich nicht gänzlich fremd bin, dem ein Teil von meinem innersten Wesen bekannt ist. Oder interpretiere ich das nur in den Text hinein? Ich trete einen Schritt beiseite und schau mich an.

Das ist Evelyn Käser am Abend des 21.Mai 2008. Sie blickt von weit oben über die Nordküste von Bali. Eine Symphonie aus balinesischem Zeremonien-Singsang, Grillengezirpe, Geckogekeckere und Glucksen einer offenen Wasserleitung dringt in ihr Ohr. Kater Möhrli schläft warm auf ihrem linken Oberschenkel. Sie spürt ihre Sitzbeinhöcker auf den Latten des Bambusstuhls. Am linken Sitzbein hat sich ein Knötchen gebildet. Vielleicht vom täglichen Meditieren im Halblotussitz. Wenn sie in den Spiegel schaut, lächelt sie sich an. Die Cambio Jeans, die sie von ihrer Schwester vor Jahren geschenkt erhielt, sitzt immer noch knackig über dem Po. Nie hat ein Kind an ihren Brüsten gesaugt. Ihr Kopf ruht schwer in ihrer Hand. Vielleicht wird einmal eine Runzel davon erzählen.
Sie hat soeben das Buch von Henning Mankell fertig gelesen. Darüber möchte sie schreiben. Über die Wirklichkeit des Lesens.
Wie das Buch zu ihr gekommen ist.
Wann sie es zum ersten Mal aufgeschlagen hat.
Wie sie gleich von den ersten Sätzen betroffen war.

Die Katastrophe kam im Herbst und brach ohne Vorwarnung über sie herein. Sie warf keine Schatten. Sie bewegte sich vollkommen lautlos. Zu keinem Zeitpunkt hatte sie eine Vorstellung davon, was geschah.

Wie sie aus ihrer Wirklichkeit in die Geschichte flüchtete.
Wie sie darin immer wieder Teile ihres eigenen Lebens fand.
Und wie sie das tröstete und beruhigte.
Wie es den Panzer ihres selbstkonstruierten Gefängnisses durchbrach.
Wie sie an ihre Freundin in Portugal dachte, als sie las:

Ein rostiger Nagel, der ihr direkt in den Fuss gedrungen war, nicht in den, an dem sie sich gerade geschnitten hatte, sondern in den anderen, den rechten. Sie war 5 oder 6 Jahre alt gewesen, der braune Nagel war ihr direkt in die Ferse gedrungen, hatte die Haut und das Fleisch durchstossen, als wäre sie aufgespiesst von einem Pfahl. Sie hatte vor Entsetzen hemmungslos geschrien und gedacht, dass sie jetzt die gleichen Qualen erlebte wie der Mann am Kreuz da vorn in der Kirche, in der sie manchmal irhe einsamen Gruselspiele spielte.

Ihre Zeit auf Anguilla, einer Karibikinsel, fällt ihr wieder ein bei den Worten:

Auf Inseln versucht nur ein Narr, etwas geheimzuhalten.

Sie beschliesst das Buch noch einmal zu lesen und darin nach den Scherben ihres Lebens zu graben. Es ist ein neuer Versuch, das Geheimnis ihres Lebens zu lüften, während auf der Baustelle keine 50m von ihr entfernt schon die Fundamente ihres neuen Heims liegen.