Immer öfter, vor allem abends und nach längerem Internet- oder Fernsehgenuss sehe ich nicht mehr ganz scharf. Wenn ich die Fingernägel feile, kann ich das feine Muster der Haut auf meinen Fingerkuppen nicht mehr erkennen. Der Umriss der Hand wird erst deutlich, wenn ich den Arm strecke. Der farbige Salat auf meinem Teller ist neblig verschummert. Bücher gehen beim Lesen auf Distanz. Die Beleuchtung muss heller sein. Das Kleingedruckte bleibt ein Geheimnis für mich. Gestern habe ich zum ersten Mal meine 1-Dioptrie-Lesebrille aus Mae Sai für meine Thai Lese- und Schreibübungen aufgesetzt. Erschreckend scharf gesehen. Als ich sie wieder ablegte, war alles noch verschwommener. Suche Halt im Netz. Netzhaut? Finde pro retina und Senta Berger, die im Rahmen der Woche des Sehens ab 40 jährlich einen Besuch beim Augenarzt empfiehlt. Ich empfehle mir täglich einen Teelöffel Wolfsbeeren, die in Europa am gemeinen Bocksdorn wachsen, ab und zu wilde Blicke, beim Teekochen offenen Auges in den Dampf schauen und statt fernsehen öfter mal die Augen schliessen und Musik hören. Die teils heiteren, teils sehnsüchtigen Fados von Amalia Rodrigues brachten mir gestern abend den Portugalsommer zurück. Ich sass wieder auf der Schafweide im Alentejo zwischen knorrigen Korkeichen und schaute der Sonne beim untergehen zu, pflückte Hagebutten im Eukalyptustal, trank eine Bica auf einer Plaza in Silves und träumte von chinesischen Teezeremonien in portugiesischen Pastelerias.