Der Meditationsretreat war eine kraftvolle Erfahrung, die mich noch ganz durchdringt. Im Wat Kow Tahm wird Vipassana Meditation gelehrt. Vipassana heisst Einsicht. Einsicht in das Leben, v.a. das eigene, wie es wirklich ist, nicht wie ich oder irgendjemand glaubt, dass es sein sollte oder wie jemand denkt, dass das Leben ist. Diese Einsicht kann durch Meditation erreicht werden. Meditation besteht aus verschiedenen Werkzeugen und Techniken, um den Geist so zu entwickeln, dass er zur Einsicht gelangen kann. Etwa wie der Werkzeugkasten für einen Handwerker, der ein kompliziertes Haus bauen will. Im Retreat werden die Werkzeuge erklärt und ihre Anwendung geübt unter idealen Bedingungen. Dazu gehört das Schweigegebot. Es ermöglicht, dass jeder seine Energie ganz nach innen statt nach aussen richten kann. Der Tagesplan. Er regelt, welches Werkzeug wann geübt wird. Eine Liste von Regeln, die das Zusammenleben in Schweigen ermöglichen. Und schliesslich die Aufgabenliste, aus der sich jeder eine Aufgabe auswählt.
Weil ich mit meiner verschwommenen Sicht lange für das Lesen und Ausfüllen der Retreatvereinbarung brauchte, bin ich eine der letzten, die sich eine Aufgabe auswählen. Ich bin gespannt auf die Auswahl. Und im Hinterkopf höre ich "hoffentlich nicht WC schrubben". Welche Freude, als das Namensfeld neben Compost Keeper noch leer ist. Nach jeder Mahlzeit sammle ich die Eimer mit den Rüstabfällen und Essensresten ein, bringe sie zum Komposthaufen, sortiere dort die Plastikteile raus in den blauen Eimer, verteile die Resten über den Komposthaufen und bedecke sie mit dem Laub, das die Wegefeger eingesammelt haben. Die leeren Eimer trage ich zum Wasserschlauch, lasse Wasser reinlaufen bis der Boden bedeckt ist und schwinge sie dann im Kreis, sodass das Wasser auch die Eimerwände spült und schütte sie aus. Dann bring ich sie wieder an ihren Platz. Den blauen Eimer trage ich zur grossen Abfalltonne und entleere ihn dort. Falls er schmutzig ist, spüle ich ihn auch aus, sonst bringe ich ihn direkt zurück an seinen Platz. Wenn keine Blätter mehr da sind oder die grosse Abfalltonne voll ist, schreibe ich eine Nachricht auf einen Zettel und klammere ihn ans Kommunikationsbrett. Wie viel Frieden, Freude und Weisheit in einer so simplen Aufgabe stecken kann, wenn man sich ihr ganz hingibt.
Neben Rosemary und Steve wird der Komposthaufen mein wichtigster Lehrer. Er zeigt mir, wie wichtig es ist Überflüssiges und Unbrauchbares loszulassen, aber nicht irgendwie, sondern möglichst so, dass es niemandem schadet oder sogar anderen Wesen wieder zur Nahrung dient. Damit ist die Liste der Lehrer noch lange nicht vollständig. Jedes Wesen, jedes Ding kann zum Lehrer werden, hat eine Lektion bereit, wenn man nur genügend achtsam und offen dafür ist. Auf mich wartet die Regenschirm-Lektion.
Am 2.Tag ist der Himmel morgens grau. Soll ich warten bis es tropisch schüttet oder das Angebot in der oberen Meditationshalle nutzen und einen Regenschirm für 10 Baht mieten? Ich denke, ich bin schlau und miete einen Regenschirm. Was man hat, das hat man. Und wer weiss, ob es genug Regenschirme für alle hat. Ich will meinen eigenen Schirm. Achtsam trage ich ihn von der oberen Meditationshalle zur Esshalle. Und wirklich, während des Essens beginnt es zu schütten. Aber ich hab ja meinen Schirm. Dort in der Ecke steht er. Hoffentlich nimmt ihn niemand. Was machen jetzt die anderen ohne Schirm? Sicher versucht jemand, meinen Schirm zu klauen. Ich muss ihn im Auge behalten. Statt essen geniessen, mache ich mir Sorgen um meinen Schirm. Und dann habe ich eine Erscheinung, die mich erstmal zutiefst beschämt. Von der oberen Meditationshalle kommt Mathew den Weg herunter. Unter einem aufgespannten Regenschirm und mit einem Arm voller geschlossener Regenschirme, die er schweigend, aber für alle sichtbar auf einen Tisch legt. Niemand kennt meine Gedanken, nur ich. Doch das genügt völlig, um erstmal vor Scham in der Erde zu versinken und mich dann wieder mitfühlend aufzurichten. Tränen steigen mir in die Augen. Welch eine Tat der Hilfsbereitschaft und welch eine Lektion für mich. Ich lasse meinen Regenschirm los. Was kann schon passieren? Im schlimmsten Fall werde ich nass und jemand anders bleibt trocken. Lohnt es sich, sich zu sorgen statt das Essen, das die Nonnen mit viel Liebe zubereitet haben, zu geniessen? Lohnt es sich, sich über die Zukunft Sorgen zu machen statt jetzt zu leben?