Dienstag, 20. September 2011

Spaziergang

Wenn ich den Tag zuhause verbringe, beschleicht mich nachmittags oft so ein muffiges Gefühl. Überall Unerledigtes und Angefangenes, das mich vorwurfsvoll anschaut. Die Luft ist feuchtheiss und fühlt sich schwer und stickig an. Die Gedanken drehen zähflüssig ihre Runden. Ich werde innerlich unruhig und suche immer verzweifelter nach Auswegen. Will dieses unangenehme Gefühl loswerden. Kaffee trinken? Ungesund. In den Pool springen? Die Angstellten sind noch da und ich bin zu faul, die Badehose anzuziehen. Ein Bild malen? Ich hab nicht die richtigen Farben und das richtige Papier. Ein Buch lesen? Ja, welches denn? Das ist doch bloss ein Ablenkungsmanöver. Was Süsses essen oder doch lieber was Salziges?
Sitze da und kann mich zu nichts aufraffen, faul und träge, wie ich bin. So ergebe ich mich meinem Schicksal mit der Weisheit, dass alles vergänglich ist, also auch dieses unangenehme Gefühl. Einfach spüren, wie der Atem einfliesst und ausfliesst. Spüren, wie die Füsse den Boden berühren...plötzlich, wie aus dem NICHTS glitzernde Gedankenfunken Füsse, Laufen, ein Spaziergang...YESSSS! Just do it! Ich stehe auf, schliesse alle Fenster und Türen, stecke den Schlüssel in den Hosensack, ziehe meine Sandalen an, nehme den Wanderstock aus Kaffeeholz, der gleich neben dem Tor an der Wand lehnt und schiebe das Tor zur Seite.
Freier Blick auf die Strasse.
Es geht den Berg hoch oder den Berg runter. "Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen", sagt es in mir. Also den Berg hoch. Mit jedem Schritt wird die Muffigkeit leichter und die Gedanken fühlen sich nicht mehr so klebrig und zähflüssig an. Es bewegt sich was! Ich bewege mich, spüre mich, lebe. Freude beginnt sich in mir auszubreiten, Lust an den Schritten, am federnden tock...tock des Wanderstocks, fast wie mein Pilgerstab damals...Ein paar Hunde bellen aus Gärten, dann wird es still. Stille, die summt, raschelt, säuselt...
Am Strassenrand hantiert ein Junge in Schuluniform an seinem Motorrad. Ich murmle ein Hallo und laufe vorbei. Später überholt er mich, wird immer langsamer und hält schliesslich an. Wartet einfach ohne zurückzuschauen. Als ich auf seiner Höhe bin, schaut er mich besorgt an und fragt: "can I help you? there is the jungle." Ich beruhige ihn und unterhalte mich ein wenig. Er fährt jeden Tag die Strasse runter zur Schule und wieder hoch. Wir verabschieden uns lächelnd. Etwas weiter wird die Strasse steiler und der Belag löst sich in Geröll auf. Der Stock gibt mir Halt. Hinter mir höre ich ein Auto. Es ist ein schwarzer Pick-up. Die Reifen drehen durch auf dem Geröll. Ein Mitfahrer steigt aus und klettert auf die Ladefläche. Die Reifen drehen immer noch durch. "Hei, ich habe auch noch 60 Kilos", denke ich und schaue weiter zu. Der Fahrer lässt das Auto etwas rückwärts rollen an eine flachere Stelle und versucht es mit mehr Schwung. Es gelingt! Als der Pick-up auf meiner Höhe ist, rufe ich dem Fahrer ein Kompliment zu und gute Fahrt. Er hält und sagt nur, steig hinten auf. Ich tu's. Mein Ballast-Gefährte bedeutet mir, mich gut festzuhalten. Und dann geht es los mit Karacho über Stock und Stein und Schlaglöcher. In mir quietscht Kinderfreude mit ein paar mütterlichen Ermahnungen. Als die Strasse wieder besser wird, bitte ich um Anhalten. Ich versuche zu erklären, dass ich weiter unten und nicht weiter oben wohne. Erstaunte Blicke und ein Terima kasih. Danke ich auch!